Uralt war Dein Verlangen …
Predigt zum Sonntag Estomihi, 11. Februar 2018

Auch als PDF Uralt war Dein Verlangen

Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf.
Da war eine Frau mit Namen Martha, die nahm ihn auf.
Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria;
die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu.
Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen.
Und sie trat hinzu und sprach:
Herr, fragst du nicht danach,
dass mich meine Schwester lässt allein dienen?
Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!
Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr:
Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe.
Eins aber ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt;
das soll nicht von ihr genommen werden.  Lk 10,38-42

„Maria und Martha“, die Geschichte ist sehr vertraut –
diese Entweder-Oder Geschichte
wie so viele Geschichten in unserem Leben –
so viele „richtig-oder-falsch“ Geschichten.
Und etwas nickt in uns beim Hören schon –
wir müssen uns nicht mühen ums Verständnis,
alles ist klar und ein Ja im Verneinen:
„Maria macht es richtig“, sie hört dem Jesus zu!
Amen könnten wir an dieser Stelle schon sagen.

Oder lieber noch nicht?
„Maria und Martha“,
die Antwort indes wussten wir wirklich schon bei der Nennung
der beiden Namen, ist doch oft so, oder?
Wertzuschreibungen von je.
Wir tragen sie in uns, die Werteskala,
nach der wir werten und bewertet werden in allem und jedem,
was auch geschieht oder nicht,
was auf den Weg bringt oder nicht,
womit wir die Welt bewegen oder sie anhalten.

Eine damit verbundene Dynamik des Menschseins ist in der Welt – immer.
Es ist die Dynamik der Gegensätze:
Du und ich.
Du groß – ich klein
Du klug – ich schlicht
Du reich – ich arm
Du zuhause – ich fremd
Du ganz Erfolg – ich VersagerIn

Das Ziel aus den Augen, aus dem Ohr verlieren,
den Herzschlag nicht mehr spüren,
nicht bei sich selber sein und Gott findet mich nicht.
Entleert sein, aber die Leere schon gefüllt mit Wünschen und Vorhaben,
zu denen ich nicht gehöre,
die mich entfremden,
gefüllt sein mit all dem Nichtigen,
gefallen wollen, weil ich sonst nichts wert bin in Deinen Augen,
ist da nicht viel von alledem in Martha,
denke ich mich in ihr Wesen hinein?

Kennen Sie, kennst Du solche Menschen, ist es auch in Dir?

Also für den Fall, denke ich gerne fürbittend an Martha,
die schlecht wegkommt, sehe in ihr Inneres:

„Uralt war dein Verlangen,
uralt Sonne und Nacht,
alles. Träume und Bangen
in die Irre gedacht,
immer endender, reiner,
du in Fernen gestuft,
immer schweigender, keiner
wartet und keiner ruft.“ (Benn)

Ist das der Grund, warum sie das Jetzt der Stunde nicht spürt?
Warum sie alles tut um zu gefallen, aber keiner sieht es?
Du siehst mich einfach nicht …

Martha, das ist vielleicht auch eine Geschichte der
Austreibung des Selbstbewusstseins eines Menschen.

Hermann van Veen singt davon ein Lied:

Wer hat den Ernst in Dein Gesicht gebracht?
Wer? Das singt Hermann van Veen
Wer hat den Ernst in dein Gesicht gebracht?
Wer hat das Licht gelöscht in dir?
Wer hat die roten Wangen bleich gemacht
Wer brach roh ein in dein Revier?
Wer nahm die Leichtigkeit,
die Unbefangenheit?
Wer brachte dich um deine allerschönste Zeit?

Wer machte deine klaren Augen blind?
Wer trieb mit dir ein böses Spiel?
Wer tötete das unbeschwerte Kind,
das immer aufstand, wenn es fiel?
Wer bremste deinen Drang?
Wer lehrte dich den Zwang?
Wer brach die Flügel dir, bevor der Flug gelang?

Wer ließ dich einfach in der Ecke stehen?
Wer hat dein Spielzeug dir zerstört?
Zu wem hast du vergeblich aufgesehen?
Auf wen hast du umsonst gehört?
Wer hat nur unerlaubt
die Zukunft dir geraubt?
Wem hast du vorbehaltlos bis zum Schluss geglaubt?

Durch meine Seele geht die Anfrage,
und sie ist nicht nur persönlich,
Wem habe ich, wem hast Du vorbehaltlos bis zum Schluss geglaubt?
Und habe ich damit nicht gar das Thema meines, unseres Lebens verfehlt?“
Verfehle ich nicht immer wieder das Thema,
das Lebensthema meiner selbst und auch das des Menschen, dem ich begegne?
Ist mein Bild nicht immer schon fertig?

Denn immer und immer wieder blicke ich in Gesichter,
denen man aufs Erste ihre Geschichte nicht ansieht.
Alles verborgen hinter der Maske der Beherrschung.
Faschingsmaske der Alltäglichkeit
eines getragenen, manchmal unerträglichen Schmerzes …

Martha – die Kunst hat sie nie leidend dargestellt, allenfalls beflissen –
Aber vielleicht ist ALLES ganz anders:
Martha könnte schon so ein Dunkles tragen,
wenn wir es ganz genau nehmen.
Ich denke an Kellnerin im Krankenhaus, nach einem Besuch.
Beim Abkassieren sagt sie mir sehr zerstört:
Mein Sohn hat Spielsucht …

„Genauer wünschen möchte ich lernen“ (Sölle),
genauer sehen, genauer hören, spüren, wittern.

Weiß ich, was das Thema meines Gegenübers ist?
Es geht ja nun nicht um das Hören an sich,
und dass Maria dies so wunderbar kann – sie hat „das gute Teil“ erwählt,
keine Frage -, es geht um das Jetzt, das mich erreicht.

Der Evangelist Lukas positioniert sein Sondergut des Jetzt
zwischen die Geschichte von der Tat des barmherzigen Samariters –
da tut einer was, und es ist gut.
Und nach der Maria- und Martha-Geschichte geht es weiter mit dem Gebet
des Vaterunsers, wo ich mit allen allein bin mit meinem Gott…

Sie aber, Martha ist das Problem,
sie ist – aus vielleicht vielen Gründen – gestört in ihrer Aufmerksamkeit,
dabei scheint sie so besonders aufmerksam.

Von einer „Störung der Aufmerksamkeit“
hat Bernhard Stiegler gesprochen in seinem Buch „Die Logik der Sorge“.
Es gehe aber darum,
wieder zu einer ausdauernden Beschäftigung
mit einem einzigen Gegenstand
zu gelangen: „Deep attention“,
tiefe Aufmerksamkeit zu erlangen …

Ins Jetzt zu kommen …

Jürgen Ferdinand Schor ist mir vor einem Jahr am Kirchentor begegnet.
Ich hatte ihn angesprochen,
weil er mein Plakat von den Gedanken für die Nacht fotografiert hatte.
Er zeigte sich begeistert von dieser Gottesdienst-Initiative.
Er ist ein Clown, der Kindern in Not hilft. Eins so bewegende Gestalt.
Wir haben uns auf Facebook befreundet.
Ich hatte ihm dieser Tage einen Geburtstagswunsch geschickt.
Seine Antwort:

„Glückwünsche sind angekommen . . . DANKE!
Grüße nach Wien und überhaupt . . . wünsche ich eine kreative Zeit
für die nachhaltige Seelsorge . . .
das intensive Leben braucht einen Rückraum, einen Schonraum,
einen Raum für wirkliche Arbeit an sich selbst,
die derzeitigen Wirklichkeiten sind alles andere als hoffnungsvoll . . .
die Armut der Kinder in Österreich hat zugenommen,
der sexuelle Missbrauch und die körperliche Gewalt allerdings auch!!!
Bleiben wir in gutem Kontakt,
bringen wir der Welt etwas auf den Weg,
was unsere Bedingungen hilft zu verbessern . . .
wir alle haben es in der Hand!!!
Wir alle einschließlich können uns mit diesem Gestalt-Prozess beschäftigen . . .
GRÜSSE WIE DIESE UND NOCH VIEL MEHR!“

Da zu sein – in meinem Jetzt. Auch in meinem Lebenslauf…
In der Familie, in der Liebe, in der Arbeit
in meinen Wünschen,
Träumen,
Wirklichkeiten,
Widrigkeiten,
Seltsamkeiten,
in dem Leben, das ich lebe.

Und das selbstbewusst,
weil mein Selbst Gottes ist und ich in ihm –
mit allem Glück mit allem Schmerz.
Maria – Martha,
und nimm Du Deinen Namen
und lege ihn hinein in diese Geschichte,
und es könnte auch sein, dass ein 43. Vers noch nachzuschreiben ist –
für Martha:
weil Du viel Sorge und Mühe gehabt hast und in Deinem Dich-Zersorgen
doch nur Dein Eines gesucht hast,
wird auch Dir nichts genommen, mein Lieb!

Nichts wird Dir genommen!
Du Erwählte,
Du Erwählter.
So ist das auch am Ende für Dich!

+ Amen.