Güterabwägung.
Über die Priorität des Lebens.
Bezugstext: Matthäus 13,44

Das Himmelreich gleicht einem Schatz,
verborgen im Acker,
den ein Mensch fand und verbarg;
und in seiner Freude geht er hin
und verkauft alles, was er hat,
und kauft den Acker.

Predigt am 1. Juli 2018 in der Lutherische Stadtkirche zu Wien

von Wilfried Engemann

1. Vom Acker gehen

Liebe Gemeinde,

vor uns liegen die Sommerferien. Wir machen uns eine Zeitlang vom Acker. In der akademischen Welt, die meinen Berufsalltag bestimmt, heißt das zum Beispiel, dass der Lehrbetrieb ruht. Die Professoren können sich wieder mehr um ihre Forschungsprojekte kümmern; die Studierenden beugen sich im Schweiße ihres Angesichts über ihre Seminararbeiten; in den Büros halbiert sich der Kaffeeverbrauch.

Man widmet sich aber auch wieder mehr den Vorlieben, die das Leben jenseits des Bildungsbetriebs bestimmen. Dazu gehören Abstand, das Gefühl, die Dinge geordnet zu haben – und die Kunst, sie auf eine geregelte Weise aus dem Blickfeld zu verlieren. Studienunterlagen werden sortiert und abgeheftet, der Schreibtisch wird noch einmal aufgeräumt, Handapparate werden aufgelöst.

Auch andere machen sich vom Acker: Das Restaurant an der Ecke wird noch einmal grundgereinigt, ein paar Stühle kommen zur Reparatur in die Tischlerei. Der Bäcker befestigt das Schild mit dem Hinweis auf die Geschäftsferien an der Innenseite der Ladentür. Der Friseur vis-à-vis hat seine Scheren und Bürsten gleich für drei Wochen beiseite gelegt. Auch Pastoren führen die letzten Telefonate mit ihrer Vertretung. Dann geht’s in den Urlaub. Auf und davon.

Ob sich wohl all diese Menschen gern auf den Weg machen, die sich da zu Hunderttausenden auf den Autobahnen, in den Zügen und auf den großen Wanderwegen Richtung Santiago de Campostella begegnen – uns eingeschlossen? Ich meine, gehen wir so gern wie jener Bauer vom Acker, für den das Weggehen nicht deshalb so schön ist, weil er seine Arbeit leid wäre oder weil er es einfach nicht mehr aushielte, sondern weil er sich aufs Wiederkommen freut. Weil er weiß, dass er etwas verlässt, was er auf diese Weise gewinnt.

Die Parabel von diesem Bauern, nachzulesen im Matthäusevangelium, Kapitel 13, geht so:

Mit der himmlischen Königsherrschaft verhält es sich so wie in jener Geschichte, die damit anfing, dass ein Bauer beim Pflügen einen im Acker vergrabenen Schatz entdeckte.

Jenes Stück Land gehörte ihm aber nicht. So deckte er den Fund in aller Stille wieder zu und machte sich mit unbändiger Freude vom Acker.

Während er immer wieder an diesen Schatz dachte, verkaufte er alles, was er hatte und konnte auf diese Weise den Acker erwerben.

Schauen wir uns diesen Bauern etwas genauer an: Er macht sich nicht nur einfach vom Acker, um später unauffällig wiederzukommen und sich dann etwas zu holen, was er auch noch haben will. Es geht um nichts Zusätzliches, es geht irgendwie ums Ganze. Das lässt er sich etwas kosten: Es wird einige Zeit brauchen, bis er wiederkommt. Er wird lange wegbleiben, sich von vielem trennen. Er wird sein ganzes Besitztum verkaufen, um die Mittel zu bekommen, die er braucht, um jenen Schatz sein eigen nennen zu dürfen, den er da im Acker entdeckt hat.

Er kann ihn aber nicht haben, ohne erst einmal wegzugehen und zu klären, was mit all dem anderen Kram werden soll. – Er sondiert seine Prioritäten.

2. Prioritäten Kennen

Seit dem Zeitpunkt, zu dem der Bauer die Arbeit auf dem fremden Acker abgebrochen hat, schaut er sich oft in seiner Hütte um. Er kann nicht mehr so recht nachvollziehen, wie er solch einen Aufwand treiben konnte für all das, was da umhersteht, die Regale füllt und an den Wänden hängt. Er erinnert sich an den Streit mit dem Bruder ums Tafelsilber der Eltern – und an die quälenden Lebensjahre, die ihn der großzügige Anbau gekostet hat, um den ihn die Nachbarn beneiden. Er schüttelt den Kopf, setzt sich an seinen Küchentisch und kürzt die lange Prioritätenliste seiner Lebens- und Eigentumsverhältnisse auf einen einzigen Posten. Auf die Aneignung jenes Schatzes im Acker.

Das macht ihm Spaß. Es ist für ihn eine schöne, weil aussichtsreiche Arbeit, zu sondieren, worauf er verzichten kann, um zu gewinnen, was ihm wirklich etwas bedeutet.

Was die Sondierung der Prioritäten angeht, können wir einiges von jenen Zeitgenossen lernen – von Kollegen, Freunden oder Eltern – die auf die Pensionierung zugehen und ihren Abgang vom Acker im Blick oder gar schon hinter sich haben. Sie erzählen zuweilen sehr gern und mit erkennbarer Vorfreude von neuen Prioritätenlisten, die in der Zeit nach „jahrzehntelanger Knechtschaft“ endlich gelten sollen: Mehr Zeit fürs Leben steht in verschiedenen Formulierung obenan, mehr Zeit für Hobbies, für Reisen – und natürlich mehr gemeinsame Zeit mit dem Schatz, den man wider Willen allzu oft allein lassen musste.

Manch einer der geschätzten Kollegen, die da vom pflichtmäßigen Bestellen des Ackers entbunden werden und sich zumindest seltener als vorher dort blicken lassen, manch einer von ihnen mag vielleicht zu Hause vor seinen Bücherregalen stehen, eines der selbstverfassten Werke herausgreifen, den Staub von der Stirnseite des Buches pusten und den Kopf schütteln wie jener Bauer: Was da zu Druckerschwärze geronnen ist, stand nun so viele Jahrzehnte an erster Stelle. Heute sieht seine Prioritätenliste anders aus. Erst der Schatz. Dann der Rest.

Zu den Schätzen, die uns dazu bringen, unsere Prioritäten zu ändern, gehören häufig liebenswerte Menschen, denen wir verdanken, dass wir gut und gerne und in fröhlicher Gelassenheit leben können. Aber es gibt auch noch andere Schätze: Manchmal erleben wir, wie uns eines Tages eine großartige Idee für die Gestaltung unseres Lebens aus einem Meer von Fragen und Gedanken vor die Füße gespült wird. Lebensverändernde Einsichten kommen plötzlich an die Oberfläche, beglückende Freundschaften werden besiegelt. – Schätze!

Wir haben doch wohl – rhetorisch gefragt – in den hinter uns liegenden Monaten dieses Jahres (oder in den Jahren dieses Jahrzehnts) einen solchen Schatz gehoben, oder ihn wenigstens gesichtet. Einen Schatz, den wir uns zu eigen gemacht haben, nachdem er uns unsere Werteskala verschoben hat? Was mussten wir dafür hergeben oder lassen? Im Bick auf die Gegenwart gefragt: Haben Sie eine vergleichbare Prioritätenliste im Kopf wie jener Bauer? Sind Sie von etwas beseelt, und sei es noch so anfänglich und leise, wovon Sie ahnen, dass es dabei irgendwie ums Ganze geht, etwas, was Sie fröhlich macht, wenn Sie daran denken? Eine Idee, eine Vision, eine „Option“ – oder vielleicht den Wunsch, dass alles so bleibt wie es gerade jetzt ist?

3. König sein im eigenen Leben

Die Art und Weise der Aneignung des Schatzes in jener Parabel soll – so lesen wir im Matthäusevangelium – ein Beispiel dafür sein, wie man sich „die himmlische Königsherrschaft“ zu eigen macht. Wollen Sie überhaupt etwas abhaben von der Landverteilung auf dem Mond? Das steht, zumindest in dieser Formulierung, auf meiner Prioritätenliste nicht gerade an Spitze, es sei denn, ich dürfte diese Parabel erden. Andererseits sind ja Parabeln gerade dafür da: Wenn man diese Kurzgeschichte erdet, erzählt sie zum Beispiel, wie es unversehens dazu kommen kann, selbstbestimmt wie ein König, wie eine Königin zu leben, eigenen Einsichten zu folgen, eigene Entscheidungen zu treffen und zu wissen, was man aus welchen Gründen will. So zu leben bedeutet unter anderem: Freiheit.

Derartige Geschichten von Königinnen und Königen kennen wir vor allem aus Grimms Märchen, oft mit negativem Beigeschmack. Nun also auch einmal eine aus dem Munde Jesu – ohne negativen Beigeschmack. Das ist kein Zufall, denn diese Art Geschichten, die voraussetzen, dass wir in einem Königreich leben, waren sein Lieblingsstoff:

„Ich lebe – und ihr sollt auch leben, und zwar wie die Könige und Königinnen.“ Das war – in verschiedenen Varianten – ein häufig wiederkehrendes Motto des Auftretens, Redens und Handelns Jesu. Manchmal hat er in dabei auch vom ewigen Leben gesprochen, manchmal von der Teilhabe am Reich Gottes – und hier, wieder einmal, von der himmlischen Königsherrschaft. Ich lebe – und ihr sollt auch leben. Ich lebe aber wie ein König. Seid ihr darauf vorbereitet, auch wie Könige und Königinnen zu leben und Regie zu führen, zu regieren? – Fragt sich nur, über welches Herrschaftsgebiet.

Das fragen sich jedenfalls die Jünger, mit denen Jesus im Gespräch ist, als er dieses Gleichnis erzählt. Matthäus erzählt, dass die Jünger allein mit Jesus sind, als er ihnen diese kleinen Beispielgeschichten von der himmlischen Königsherrschaft erzählt, um ihnen zu erklären, was er unter „Leben aus Glauben“ versteht. Die Jünger haben also gerade Privatunterricht; sie haben ihren Meister zu dieser Stunde ganz für sich. Er redet entsprechend offen mit ihnen:

„Sagt bloß, ihr hättet keinen Schatz, da wäre nichts, was die Aneignung lohnte. Wie wäre es denn mit dem euch geschenkten Leben? Mehr als das Leben in seiner Fülle könnt ihr ohnehin nicht gewinnen. Doch ihr könnt es nicht in Empfang nehmen, wenn ihr so lebt, als ob es euch nicht gehörte. Ihr seid Könige! Lebt entsprechend. Ihr seid in dieser Funktion unersetzlich. Es kann euch nicht gleichgültig sein, was in und mit diesem Reich geschieht, in dem ihr die Regenten seid. Ihr macht Gott damit keine Konkurrenz, im Gegenteil, er hat euch dieses Reich vermacht.“

Das Thema „Leben“ ist das Lebensthema Jesu. „Erfülltes Leben“, „Leben in Freiheit“, „königliches Leben“, „Eintritt in des ewige Leben an einem Tag wie heute“ – das sind Facetten dieses Themas. Gleichwohl ist es in der christlichen Glaubenskultur  bis heute noch immer verdächtig, das von Jesus in den Blick genommene eigene Leben zu lieben und sich tatsächlich an ihm zu erfreuen. Dass wir das uns persönlich eröffnete Leben selbst für jenen Schatz im Acker halten, für den man hin und wieder etwas lassen und aufgeben muss, wird eher selten für eine der zentralen Positionen des Christentums gehalten. Das vielzitierte „Leben in der Nachfolge“ wird dagegen oft als ein Leben dargestellt, das man sich eigentlich nicht wünscht. Man kann es aber angeblich, mit Gottes Hilfe, irgendwie ab-leben, hinter sich bringen und überstehen. Ich bin der Überzeugung, dass es bei der Idee von einem „Leben in der Nachfolge“ um nichts anderes geht als um den Königsweg in unser eigenes Leben hinein. Es geht darum, dass wir unseren eigenen Part übernehmen und unser Leben so königlich leben wie Jesus selbst.

Dazu gehört es wohl, dass wir nicht dem Zufall über lassen, was mit unserer Beteiligung geschieht, dass wir uns in unserem Leben als Regenten erweisen, die gute Entscheidungen treffen und Prioritäten setzen, als Menschen, mit denen andere rechnen können. Dazu gehört es – dafür sind auch Könige anfällig – dass wir uns nicht einflüstern lassen, unser Reich müsse erst noch expandieren, im Klartext: wir müssten aus unserem Leben etwas Großes machen. Lassen wir uns nicht von dem Gedanken korrumpieren, unser Leben sei noch nichts, wir müssten erst noch mehr Gewinn einfahren und den Neid und die Anerkennung unserer Feinde auf die Spitze treiben, um endlich sagen zu können. „Ja, jetzt lebe ich – einigermaßen. Ich kann mir ordentlich etwas leisten und bin ein zuverlässiger Verbraucher. . . Und den Rest kriege ich schon noch hin: Durch den beschleunigten Ausbau meiner Karriere, durch bessere Vernetzung mit denen, die etwas zu verteilen haben, durch einen rigoroseren Umgang mit meinen Ressourcen. – So werden wir Sklaven unsres Lebens, nicht Könige.

Könige – jedenfalls die Könige in den Märchen und Mythen – sind frei. Sie lassen sich, wenn ihre Herrschaft etwas taugt, nicht auf faule Kompromisse ein. Sie tun nichts, was sie nicht für wünschenswert und gut halten. Sie unterschreiben nichts, was ihre Freiheit unterwandert. Sie werfen ihre Schätze nicht aus dem Fenster, um vor anderen Eindruck zu schinden oder um die Zahl ihrer Gefolgsleute zu vergrößern. Sie können sich aber selbst rückhaltlos ins Leben werfen, was die Erfahrung einschließt, dass leidenschaftliche Hingabe reich machen kann.

4. Vom Umgang mit Schätzen

Der Bauer aber deckte den Fund in aller Stille wieder zu und machte sich mit unbändiger Freude vom Acker. Während er immer wieder an diesen Schatz dachte, verkaufte er alles was er hatte und konnte auf diese Weise den Acker erwerben.

Die Urlaubs- und Ferienzeit ist von jeher eine Zeit, in der uns, die wir uns vorübergehend vom Acker machen, etwas stärker als sonst bewusst wird, was wir da liegen haben: wie kostbar unser Leben ist, und wie schade es wäre, sich diesen Schatz erst im Status eines Pensionisten anzueignen. Es kommt nicht selten vor, dass Menschen, die einen Pilgerweg benutzen, wenn sie vom Acker gehen, für den neu entdeckten Schatz ihres Lebens etwas hergeben. Ohne viel Aufhebens verschieben sich ihre Prioritäten in Richtung Leben, wenn sie von solch einem Weg wieder nach Hause kommen. Das kann mit dem Zurückfahren solcher Anstrengungen verbunden sein, die davon bestimmt waren, noch mehr aus dem Leben herauszuholen, die Leistung ständig zu maximieren, und die Freizeit als eine Zeit zu verbringen, in der keine Zeit wirklich frei, sondern jede Minute organisiert ist.

Die Parabel vom „Schatz im Acker“ erzählt auf eine äußerst knappe, symbolische Art und Weise, dass dieser Schatz schon daliegt. Wir stehen vor der Frage, was er uns wert ist: Ob wir den Acker zu unserem Acker machen, hingehen und unsere Prioritäten überdenken, oder ob wir weiterackern, als läge da gar kein Schatz –   oder ob wir uns an diesen Schatz ketten, ihn bewachen, gegen andere verteidigen – und letztlich gar nichts davon haben.

Es ist ein Grundzug des christlichen Glaubens, das eigene Leben nicht als ein großes Beute-Machen misszuverstehen, sondern es als einzigartiges Geschenk zu begreifen. Gott zu glauben, dass er damit etwas Gutes im Sinn hatte, heißt, dem Leben die Priorität zu geben. Das tun wir, indem wir es einerseits wirklich führen, und uns andererseits ohne Angst in dieses Leben hineinzuwerfen und mit anderen zu teilen – großzügig und verantwortungsvoll wie gute Könige.

Dieser Schatz ist unermesslich. Er nimmt nicht ab. Auch am letzten Tag unseres Lebens sollte Sie noch eine Perle darin finden, die nicht vor die Säue gehört, sondern die wir in der Stunde des Todes in die Hand nehmen und gegen das Leben eintauschen können.

Wenn Sie dann die Kirche verlassen, vergessen Sie nicht, dass Sie Königinnen und Könige sind. Gehen Sie also aufrecht, wenn Sie nach draußen gehen. Gehen Sie so, als hätten Sie eine Krone auf. Schließlich verfügen sie über einen Schatz, der durch nichts aufgewogen werden kann und den sie nicht wirklich verlieren können. Sie sind nämlich selbst dieser Schatz.