Literaturkreis

Reden worüber wir lesen.
Das ist ein so Schönes,
denn wir lesen ja einen Menschen und darin uns selbst …
Darum kommen wir zusammen um DichterInnen und DenkerInnen
und setzen LESEZEICHEN für unser Leben einmal pro Monat
im sogenannten Lesezeichen
mit Siegfried Werner König & Gertrud Wieser

Zusammen wird die Lyrik ausgewählter Autor*innen gelesen und besprochen.

 

 

 

 

 

 

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Unerschrocken denken

Vielmehr ist es diese unteilbare Gottheit,
die in uns und in der Natur tätig ist,
und wenn die äußere Welt unterginge,
so wäre einer von uns fähig,
sie wieder aufzubauen,
denn Berg und Strom,
Baum und Blatt,
Wurzel und Blüte,
alles Gebildete in der Natur
liegt in uns vorgebildet,
stammt aus der Seele,
deren Wesen Ewigkeit ist,
deren Wesen wir nicht kennen,
das sich uns aber zumeist
als Liebeskraft und Schöpferkraft
zu fühlen gibt.

Hermann Hesse, Demian

Ich lerne immer – Die Gedichte des Michelangelo

Ich bin nicht tot

Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf.
Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume.
Ich leb in euch, ich geh in eure Träume,
da uns, die wir vereint, Verwandlung traf.

Ihr glaubt mich tot, doch dass die Welt ich tröste,
leb ich mit tausend Seelen dort,
an diesem wunderbaren Ort,
im Herzen der Lieben. Nein, ich ging nicht fort,
Unsterblichkeit vom Tode mich erlöste.

Viel zärtliche Demut – Die Gedichte der Sarah Kirsch

Von Meinem Haus
Ich sage: du bist der große Wind
du bläst mir Kummer ins Gesicht
Du sagst: es ist kein Sturm
nur eine kleine warme Brise

Aber ich sehe von meinem Haus
das Dach segeln wie seidengrauen Rauch
die Bücher probiern ihre Flügel
nichts bleibt verschont, Klavierkonzerte
machen sich auf schwarzen Tellern davon, die Fenster schliessen nie mehr.
Wo soll ich wohnen fürderhin?

Ich sage: mir ist alles davongeflogen
Du sagst: da ist kein Sturm
Ich sage: der Wind ist so groß, daß Zigaretten
verbrannt sind, eh sie den Mund erreichen
Und hält man einen Federhalter in der Hand
bohrt er sich in den Tisch.

Sarah Kirsch

Ihr Uhren tief in uns… – Die Gedichte des Paul Celan

Herzzeit, es stehn
die Geträumten für
die Mitternachtsziffer.

Einiges sprach in die Stille, einiges schwieg,
einiges ging seiner Wege.
Verbannt und Verloren
waren daheim.

Ihr Dome.

Ihr Dome ungesehn,
ihr Ströme unbelauscht,
ihr Uhren tief in uns.

Paul Celan

Echte Zärtlichkeit ist unverwechselbar

Und sie ist leise. Vergeblich
Umhüllst du mir sorgsam
Schultern und Brust mit Pelzen,
Vergeblich sprichst du gefällige Worte
Von der ersten Liebe.
Wie kenne ich diese beharrlichen,
Unersättlichen Blicke von dir.

Anna Achmatowa

Aus dem Vergessen heben

Gedichte von Ursula Bedners und Oskar Pastior

Mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2009 an Herta Müller wurde die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf die Existenz einer rumäniendeutschen Literatur gelenkt. Ihr Roman „Atemschaukel“ speist sich aus Gesprächen mit Oskar Pastior (1927-2006) über dessen untilgbare lebenslange Beschädigung durch fünf Hungerjahre in sowjetischen Arbeitslagern. Trotz offizieller Anerkennung seiner Leistungen als Autor und Journalist kehrte Pastior 1969 nach einem Aufenthalt in Wien nicht mehr nach Rumänien zurück.

Die Literaturkritik bescheinigt ihm – allein seit dem Jahr 2000 Träger der nach Hasenclever, Huchel, Fried und Büchner benannten Preise – eine Sonderstellung, ohne die Nähe zu Jandl und den Dadaisten zu ignorieren.

Aus der Erfahrung der allgemeinen Verflachung der Sprache und deren Missbrauch unter totalitärer Herrschaft resultierte sein Leiden an Sprach-„Fertigbauteilen“. Er kurierte es, indem er Wörter und Sätze bis zum Bersten strapazierte und aus diesem Zerfallsprozess neue, unerwartete Sinnzusammenhänge gewann.

Nicht ohne Augenzwinkern betitelte er einen seiner zahllosen Gedichtbände mit dem Ergebnis solch lustvoll raffinierten Jonglierens als „Wechselbalg“. Nur wenige Zeilen und schon findet sich der Leser gleichermaßen irritiert wie belustigt, doch auch neugierig auf weitere Windungen im Pastior´schen Sprachlabyrinth wieder.

Ich die
du den
be treu
schau was
die amtl
rechts
schrei bung
sprich peng
geh wer
und lei
stunx schau
was raus
kompt na
ich du
den die

Ursula Bedners

Wie Oskar Pastior väterlicherseits aus Schäßburg im rumänischen Siebenbürgen stammend und mit ihm geistig-freundschaftlich verbunden, zog Ursula Bedners(1922 – 2005) Emigration als biographische Lebenszäsur nie in Erwägung.

Obwohl sie dem kommunistischen Regime wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft grundsätzlich verdächtig blieb, ihr Schreiben „hinter sieben Bergen“ oft auf Unverständnis stieß und sie vom Literaturbetrieb wenig wahrgenommen wurde, erwuchs unter ihrer Feder ein schlankes, überwiegend lyrisches Werk: anmutig, bescheiden, fern der Klage. Im Schreiben transzendierte sie den zermürbenden Alltag, erlebte sie Momente des Glücks, erkannte sie ihren ganz persönlichen Lebensauftrag.
In unserer Beschäftigung mit ihrem lyrischen Erbe erfüllt sich ihre Hoffnung, nicht vergessen zu sein.

IRGENDWO

Im Juni,
mittendrin
ein Schrei
hat meine Unruh
begraben,
irgendwo
im November
lasse ich mich
endgültig nieder,
fremde Uhren,
flügelschlagend
ums Zifferblatt,
geben einmal
Lebenszeichen
von mir